Cizre, vergib uns nicht!
Alles spielt sich vor unseren Augen ab!
Verletzte Menschen, die sich nach einem Mörseranschlag auf ein Gebäude in Cizre seit acht Tagen im Keller verschanzt haben, harren aus. Sechs der insgesamt 25 Verletzten haben bereits ihr Leben verloren. Wir konnten bislang keine Ambulanz schicken!
Jedes Mal, wenn sich eine Ambulanz den Verletzten nähern wollte, wurde sie beschossen. Die Regierung versucht die Bevölkerung mit Lügen zu täuschen. Die Regierungsvertreter sagen zum Beispiel, dass möglicherweise keine Verletzten in dem Haus seien und dass die YDG-H das Feuer auf die Ambulanz eröffnet habe. Keiner fragt, wer sich in diesem Gebäude verschanzt hat, wer die Verletzten sind, dass die YDG-H das Feuer auf die Ambulanz eröffnen würde? Die Regierung lügt uns ständig an, dabei ist es sehr einfach, was sie zu tun hätte:
Wenn sie nur für eine Stunde ihre Sondereinheiten zurückziehen würde, die willkürlich auf die Menschen schießen, dann würden, ohne dass eine Ambulanz nötig wäre, die nur wenige Hundert Meter entfernten und sich aus Machtlosigkeit mit aller Kraft auf die eigene Brust schlagenden Mütter der Verletzten ihre Kinder eigenhändig heraustragen.
Kein Wasser für Kurden!
Die Mütter der im Keller verschanzten Verletzten versuchen nur hundert Meter entfernt, Nachricht von ihren Kindern zu erhalten. In den sozialen Medien sehe ich den Aufschrei der Mutter von Mehmet Yavuzel (Parteiratsmitglied der DBP), die im Fernsehen die Stimme ihres Sohnes hört, der seit acht Tagen verletzt vergeblich auf eine Ambulanz wartet, und die sich aus Verzweiflung mit aller Kraft auf die Brust schlägt und ruft: „Was würde ich nicht für euch opfern!“
Wir stehen einer Mentalität gegenüber, die bei jeder Gelegenheit beleidigt, die Wahrheit verzerrt, das Volk belügt, Menschen massakriert, Friedhöfe zerstört und Leichen schändet.
In diesem Keller sind Menschen, die seit Tagen nach Wasser verlangen. Wir sprechen von Wasser, von einem Glas Trinkwasser. Wir sprechen von Menschen – egal wer sie sein mögen –, die kurz vor dem Sterben nach Wasser verlangen. „Ich sage Wasser, heval, nur Wasser.“ (heval heißt auf Kurdisch „Freund“, „Kamerad“, Anm. d. Ü.)
Von „Es gibt keine kurdische Frage“ sind wir jetzt angekommen bei „Kein Wasser für Kurden!“.
„Unsere Kinder sind in einem Keller, durstig!“
„Unsere Kinder sind in einem Keller, verletzt!“
„Unsere Kinder sind im Keller, hoffnungslos!“
Unsere Kinder warten in einem Keller darauf, dass wir zu ihnen gelangen und Salbe für ihre Wunden werden. Unsere Kinder harren in einem Kellerraum aus!
Unsere Kinder fordern in einem Keller nach Wasser!
Während ich diesen Artikel schreibe, erreicht mich die Nachricht, dass die dreizehnjährige Sultan Irmak ebenfalls ihren Verletzungen erlegen ist. Ein kleines Kind, das sich, nach Wasser flehend, seit Tagen Schritt für Schritt dem Tod genähert hat.
All diese Grausamkeiten haben wir beobachtet und beobachten sie noch immer. Die Mächtigen haben gewonnen. Sie haben eine Gesellschaft nach ihren Vorstellungen geschaffen. Angst, Gleichgültigkeit, Gewissenlosigkeit haben diese Gesellschaft erfasst. Seit sechzig Tagen ist es uns nicht gelungen, die Ausgangssperre in meiner Stadt Sur zu durchbrechen. Wir haben die Leichname junger Menschen, die tagelang auf der Straße lagen, nicht bergen können. Wir haben zum Beispiel nicht zu den Toren von Cizre gelangen können, unter Geschützfeuer haben wir das Gebäude nicht erreichen können, um die Verletzten aus dem Keller zu bergen!
Wehe uns, Schande über uns!
Nicht die Körper junger Menschen wurden in diesem Keller begraben, sondern das Gewissen dieses Landes.
Cizre, vergib uns nicht!
Nurcan Baysal
*As published in http://civaka-azad.org/cizre-vergib-uns-nicht/